Dienstag, 27. September 2011

Medizinwanderung

Medizinwanderung

Um 6 Uhr klingelte mein Wecker – nicht gerade meine bevorzugte Zeit. Dennoch zügig nestelte ich mich aus dem Schlafsack, zog mich an und krabbelte aus meinem Zelt. Eine schmale zunehmende Mondsichel stand noch am Himmel, der Rest des Mondes in dunkles Rot gehüllt. Wintersternbilder wie der Orion waren zu sehen. Die Morgendämmerung schritt schnell voran und löschte den Sternenhimmel aus.

Müde, vermummte Gestalten sammelten sich nach und nach schweigend im Kreis. Dann wurden wir mit Salbei und anderen Kräutern geräuchert und einzeln ausgesandt zu unserer stillen Wanderung.

Der Schritt über die Schwelle war bei mir ein Knochenhaufen neben der Feuerstelle unseres Platzhüters. Ein Schädel und Kieferknochen zogen mich magisch an. Ich schritt über den Tod in eine neue Welt.

Der Bachlauf zog mich zunächst an. Ich ging an eine Stelle, die ich noch nicht aufgesucht hatte. Als ich feststellte, daß es dort nicht so einfach weiter geht, und daß ich zudem nicht allein sein würde (ein anderer Teilnehmer hatte den gleichen Weg gewählt), ging ich lieber zu dem Wäldchen, das ich schon am ersten Tag des Seminars gewählt hatte für einen Sitzplatz.

Sehr alte ehrwürdige Buchen und Eichen umringt von Maisfeldern: im Schoß einer Eiche mit dreigeteiltem Stamm setzte ich mich nieder. Ich lehnte an einem der Stämme und schaute in den Himmel, freute mich am Muster des Eichenlaubs gegen den langsam heller werdenden Himmel.

Ich saß lange da, über eine halbe Stunde. Da waren nicht viele Gedanken. Ich fühlte mich wohl und geborgen, sicher und geschützt, und in mir ruhend. Es war friedlich. Einmal kreuzte ein anderer Mensch laut raschelnd das Wäldchen. Ich blickte nicht auf, und bald war ich wieder allein.

Als mir langsam kalt wurde, wollte ich aufstehen und mich ein wenig bewegen. Aber nein, zuerst zog mich noch Mutter Erde an. Ich hatte noch nicht genug gespürt. So legte ich mich flach auf den Boden. Er war kalt, aber hier auf dem Laub trocken. So tröstlich war das. Der Geruch war erdig-schwer, schon herbstlich. Dann drehte ich mich noch auf den Rücken. Am liebsten hätte ich mich ausgezogen, um die Erde noch direkter zu spüren. Aber dafür war es mir dann doch zu kalt.

Dann verließ ich das Wäldchen. Mir war bewußtgeworden, daß ich den Sonnenaufgang verpaßt hatte. Die Sonne schien nun schon eine Handbreit über dem Maisfeld. Schade einerseits, denn wann habe ich die Gelegenheit, mal einen Sonnenaufgang zu sehen? Meist bin ich doch erst später wach. Aber es störte mich wenig, zu sehr hatte ich die Stunde im Laubwäldchen genossen.

Ich folgte einem Schotterweg zur nächsten Hauseinfahrt. Dort lagen frische Kastanien. Ich lud mir die Taschen davon voll. Zweimal raschelte es über mir und in einer kleinen Explosion landeten Kastanien und deren Schalen auf dem Boden, sprangen noch einmal hoch und blieben dann liegen. „Alles Gute kommt von oben“, dachte ich, ging ein paar Schritte weiter und wartete ab, ob mehr Kastanien fallen würden. Nein, es war, als hätte ich sie nur angezogen, als ich direkt darunter stand. Ich sah aber viele viele geöffnete Schalen am Baum hängen, die Kastanien glänzend sichtbar, bald bereit zum Fallen. Wunderschön, so habe ich das überhaupt noch nie gesehen. Kurz überlegte ich, ob ich mit einem Kastanienwurf ins Geäst nachhelfen sollte, aber dann wollte ich nicht in den Lauf der Natur eingreifen.

Ich ging einige Schritte weiter. Da fielen mir viele kleine Vögel ins Auge. Sie huschten zwischen Fichtenzweigen sehr flink hin und her (Tannenmeisen), flogen ins Maisfeld im Slalom zwischen den Reihen und verschwanden so schnell wie sie gekommen waren oder flogen in kleinen Schwüngen über das Feld in die Bäume.

An einer Feldeinfahrt lud mich ein Baumklotz zum erneuten Sitzen ein. Ich sah kleine beigefarbene Vögel in einem dichten Strauch (mal eine Art, die ich noch nicht kenne). Einer putzte ausgiebig sein Gefieder. Ich sah, wie der kleine Kopf sich hin und herbewegte, wie mit dem Schnabel die Flügel bearbeitet wurden. Es war so ein zauberhafter Frieden in diesem Bild. Diese Vögel sind so genügsam, sie brauchen eigentlich nichts, nur die Natur um sie herum, die ihnen alles bietet: Spiel und Vergnügen, Frühstück und Morgentoilette.

Ich stand wieder auf und ging langsam weiter. Ich wollte wissen, was hinter dem Maisfeld liegt. Dort lag zur Rechten ein schon gerodetes Maisfeld. Zur Linken zunächst eine Weide, dann wieder eine kleine Baumgruppe. Unter einer Eiche blieb ich erneut stehen, beobachtete kurz zahlreiche Meisen, die von Ast zu Ast hüpften. Als sich auf dem Weg eine andere Teilnehmerin näherte, ging ich weiter. Ich wollte gerne allein sein.

Als nächstes wurde meine Aufmerksamkeit von Tierspuren auf dem Schotterweg angezogen. Ich erkannte Spuren von zwei Rehen, die recht frisch wirkten. Angrenzend zur Linken lag unterdessen ein ebenfalls schon abgeerntetes Feld – eine mir unbekannte Feldfrucht nach den restlichen Blättern zu urteilen. Ich dachte, ich müsse die Rehspuren im lockeren Boden doch eigentlich gut erkennen. Da wurde mir klar, daß die unspezifischen Vertiefungen genau diese Spur sein mußten. Ich folgte den Spuren, wollte gerne wissen, von wo die Rehe gekommen waren.

Die Spur führte schräg über das Feld. In Verlängerung sah ich eine Brücke, die mich anzog. Aber sie schien mir zu weit weg angesichts der schon fortgeschrittenen Zeit, wir sollten nach zwei Stunden zurück sein. Die Rehe waren möglicherweise über diese Brücke gekommen. Da mir das Laufen über den weichen Boden doch zu anstrengend war und ich die Verfolgung nicht spannend genug fand, verließ ich die Tierspuren und kehrte auf den Weg zurück.

Als nächstes wurde meine Aufmerksamkeit auf wunderschöne gelbe Stauden am Rand des nächstens Feldes gelenkt. Solche Blumen wachsen auch in Gärten, den Namen kenne ich nicht, das war aber auch nicht wichtig.

Das hohe Gras entlang des Wegs war von Tau übersäht. Jeder einzelne Tautropfen glitzerte silbern in der Morgensonne, die höher gestiegen war. Der Anblick war wunderschön. Ich dachte, ich müsse eigentlich gar nicht weitergehen, ich könnte überall verweilen und einfach die Wunder der Natur genießen. Ich sah dann noch zwei Pusteblumen, Löwenzahn, der offenbar ein zweites Mal geblüht hatte und jetzt im Samen stand. Der Tau hatte den Kopf in eine silberne Kugel verwandelt. Die erste Kugel berührte ich und bemerkte dabei, daß ich den Zauber zerstöre, weil sofort die Samen zusammenklebten. Daraufhin bewunderte ich den zweiten Samenstand nur still.

Ich geriet an eine Wegkreuzung. Zur Rechten in kurzer Entfernung lag eine landwirtschaftliche Anlage, die ich nicht näher in den Blick nehmen wollte. Zur Linken zog mich immer noch die Brücke an. Ich wußte, daß unser Camp am anderen Ufer des Baches liegt, aber ich wußte nicht, ob es dort einen Weg zurück geben würde, und ich hatte nur noch 20 Minuten Zeit. Ich zögerte, ob ich umkehren soll. Immerhin sah ich zwei unserer Teilnehmer auf der anderen Seite. Also mußte es wohl irgendeinen Weg geben.

Rückzug wäre eine kleine Niederlage gewesen. Ich wollte lieber meinem Instinkt folgen und steuerte nun mit schnellen Schritten auf die Brücke zu. Der Bachlauf war hier stark begradigt, was ich nicht so schön fand, das Wasser war aber klar.

Am Ufer gab es eine gut begehbare Gras-Trecker-Spur. Ich fühlte mich bestätigt, daß meine Entscheidung richtig war, über die Brücke zu gehen. Erneut kam ich an eine kleine Strauchgruppe mit vielen Vögeln. Es wuchsen dort Büsche mit dichten Trauben von schwarzen Beeren direkt am Stamm. Sowas habe ich noch nie bewußt gesehen, keine Ahnung, was das war. Ich kam nicht nahe genug heran, um ein Blatt zur späteren Bestimmung mitzunehmen.

In der Fortsetzung meines Graswegs erhob sich jetzt eine Frau, die am Rande des folgenden Maisfelds gelegen hatte. Ich fühlte mich erneut in meinem Zeitgefühl und der Rückkehr ins Lager bestätigt. Zu meiner Verwunderung kam sie mir aber entgegen. Das verwirrte mich. Ich war ganz sicher, daß direkt hinter diesem Maisfeld unser Lager liegen müßte. War sie nicht von dort gekommen? Gab es dort irgendein Hindernis, das mich hindern würde, dort langzugehen?

Als sie an mir mit zügigem Schritt vorbeigegangen war (ohne Gruß, denn wir sollten ja schweigen und keinen Kontakt aufnehmen), rekapitulierte ich nochmal meinen Weg und das, was ich bisher von der Umgebung kennengelernt hatte. Nein, ich war auf der richtigen Seite des Mühlenbachs und ich kannte bereits einen kleinen Platz im Maisfeld auf der anderen Seite, und von dort ging es durch ein kleines Gestrüpp zurück. So setzte ich zuversichtlich meinen Weg fort, durch die äußersten beiden Reihen des Maisfelds, den Bach zur Linken. Und ich kam tatsächlich an dem kleinen freien Platz heraus, den ich bereits vom Vortag kannte. Zurück an einer Buntspecht-Rupfung, die andere Teilnehmer schon lange entdeckt hatten. Ich nahm mir noch die letzten größeren Federn mit.

Nun war ich schon am Rand des Camps angelangt, blickte noch kurz in die Schwitzhütte, in der eine andere Gruppe am Vortag gesessen hatte. Dann entschied ich, daß das noch glimmende Feuer vor der Schwitzhütte eine passende Schwelle für meine Rückkehr aus der Anderswelt in das Diesseits sei. Mit zwei großen Schritten überquerte ich meine Schwelle, dankte kurz für die phantastische Erfahrung und ging befreit ins Lager zurück.

Es war ein perfekter Tagesbeginn, ein perfekter Weg, mit sehr viel Glück und innerem Frieden. Noch stundenlang hielten die erhöhte Aufmerksamkeit und das Glücksgefühl an. Das Leben könnte so einfach sein, wenn es mir öfter gelingen würde, in diesem Bewußtseinszustand zu sein.